Homosexualität und GenderHomosexualität ist in Japan ein, seit mindestens dem 10. Jahrhundert bis heute, akzeptiertes sexuelles Verhalten. In früheren Zeiten wurde Liebe zwischen Männern sogar als die reinste Form der Liebe überhaupt betrachtet. Zu keiner Zeit wurde Homosexualität in der japanischen Gesellschaft und Religion (vor allem Shintoismus und Buddhismus) als eine Sünde angesehen; jedoch hat die moderne Sexualwissenschaft und der Wunsch, „zivilisiert“ zu erscheinen, auch in Japan die Auffassungen von gleichgeschlechtlicher Liebe beeinflusst. Homosexuelle Handlungen unter Männern wie auch Frauen sind in der Geschichte Japans größtenteils legal gewesen. Lediglich ab 1872, als die neue Regierung unter Kaiser Meiji ihr neues Strafgesetzbuch an das deutsche Reichsstrafgesetzbuch sowie an das englische Strafrecht anlehnte, wurden homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt. Ab 1880 wurde diese mit der Überarbeitung des Gesetzes mit Anlehnung an den Code Napoleon wieder legalisiert. Seither gibt es keine Gesetze mehr, welche Homosexualität unter Strafe stellen. Spezielle Antidiskriminierungsgesetze bestehen in Japan nicht. Eine Ausnahme stellt die Stadtverwaltung Tokio dar, die ein Diskriminierungsverbot in den allgemeinen Arbeitsanweisungen veröffentlicht hat, das auch die sexuelle Orientierung einschließt. Für die meisten japanischen Arbeitnehmer wäre es jedoch völlig abwegig, sich am Arbeitsplatz zu outen. Nicht selten gehen Homosexuelle aufgrund der gesellschaftlichen Erwartungshaltung eine heterosexuelle Scheinehe ein. Das Wohnungsamt Osaka vermittelt günstige Stadtwohnungen nur an Einzelpersonen oder verheiratete bzw. „heiratswillige“ Paare; die Vergabe an zwei Personen des gleichen Geschlechts ist dagegen explizit untersagt, im „Vergehensfall“ droht die Kündigung (nicht so in Tokio). Gegen diese und ähnliche Diskriminierungen von staatlicher oder privater Seite haben Homosexuelle in Japan keinerlei rechtliche Handhabe. Über Gleichstellungsgesetze oder Partnerschaftsgesetze wie in Europa wird bisher nur auf kommunaler Ebene diskutiert. Als erste Metropole und sechste Kommune des Landes will Sapporo ab 2017 Partnerschaftszertifikate für homosexuelle Paare ausgeben. Die Bescheinigung hat allerdings – wie in Deutschland einst die Hamburger Ehe – überwiegend symbolischen Charakter. Dennoch beseitigt sie zumindest in der Kommune einige Diskriminierungen. So werden registrierte Partner bei einem Besuch im Krankenhaus als Familienmitglied anerkannt, auch die gemeinsame Bewerbung um eine kommunale Wohnung ist mit dem Zertifikat möglich. Auf Bundesebene aber erteilen die japanischen Registrierungsbehörden die Anweisung, Anträge auf zur Heirat notwendige Urkunden auf „Heterosexualität“ zu prüfen und die Bearbeitung gegebenenfalls abzulehnen. Eine gleichgeschlechtliche Eheschließung ist für Japaner in Deutschland möglich (vgl. Artikel 17b EGBGB), hat aber in Japan keinerlei Rechtswirksamkeit. Auch in der Familie ist Homosexualität noch ein Tabu-Thema. Viele Japaner berichten, dass ihre Eltern sich wahrscheinlich ihren Teil denken, aber dabei bleibt es dann auch. Im März 2021 urteilte ein Gericht in Sapporo, dass das gesetzliche Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe gegen die japanische Verfassung verstößt. Ursprünglich waren Shudō, Wakashudō und Nanshoku die bevorzugten Begriffe für Homosexualität. Gegenwärtig sind Dōseiai (同性愛) – Anfang des 20. Jahrhunderts in Anlehnung an das deutsche Wort Homosexualität geprägt – und davon abgeleitet Dōseiaisha (wörtlich: „gleichgeschlechtlich liebende Person“) neben dem englischen Fremdwort Gay die einzigen verfügbaren Begriffe geworden. Der Ausdruck Gay wird fast nie benutzt, wenn antike und historische Quellen diskutiert werden, weil das Wort mit modernen, westlichen und politischen Konnotationen befrachtet ist. Es legt eine besondere Identität nahe – eine, mit der sich sogar die Homosexuellen im modernen Japan nicht unbedingt identifizieren möchten. Die japanische Sexualmoral ist weltweit eine der offensten überhaupt. Für die meisten Japaner steht die Privatsphäre ihrer Mitmenschen, einschließlich ihres Sexuallebens, nicht zur Diskussion. Die Offenheit der japanischen Gesellschaft gegenüber Homosexualität entspringt also nicht unbedingt einer besonders liberalen, durchdachten Aufgeklärtheit, sondern eher einer allgemeinen Gleichgültigkeit. Homosexuelle Menschen werden in der japanischen Gesellschaft allerdings oft einseitig auf ein Tunten-Image reduziert, so sehr, dass bei okama (オカマ), einem der Alltagswörter für „schwul“, auch immer gleich das Bild eines solchen homosexuellen Mannes mitschwingt. Ein Hauptgrund ist sicher die Kleidung und das Verhalten, welches häufig mit dem Wort kawaii („putzig“ – häufig im Bezug auf Frauen) assoziiert wird, was in dieser von Kritikern oft als infantilisiert beschriebenen Gesellschaft ein positives Urteil darstellt. Mehrere Tarentos im japanischen Fernsehen sind offen schwul; alle tendieren dazu, homosexuelle Männer möglichst „feminin“ und „kawaii“ zu zeigen. Die meisten Love Hotels akzeptieren keine Männerpaare, öfter dagegen zwei Frauen. Allerdings gibt es spezielle „Liebeshotels“ in Gegenden, die als Rückzugsorte für homosexuelle Menschen dienen, von denen einige auch heterosexuelle Paare akzeptieren. Das größte und einzig explizite Viertel für homosexuelle Menschen in Japan ist Shinjuku ni-chōme in Tokio (siehe dort für Besonderheiten des schwulen Nachtlebens). In Osaka finden sich die meisten schwulen Einrichtungen im Stadtviertel Dōyama-chō (堂山町). Neben Bars und Discos sind auch Saunas, Sexclubs und Hotels vorhanden. Lesben-Events finden regelmäßig statt. Wie in anderen Großstädten verteilen sich die Lokale etwas übers Stadtgebiet. Schwulenbars sind in Japan oft von außen nicht als solche zu erkennen, auch ist deren Fluktuation sehr hoch. Läden, die für Ausländer interessant sind, haben vorwiegend englischsprachige Websites mit Lageplan. Die japanische Gesellschaft trennt scharf zwischen homosexuellem Sex an sich einerseits und der sexuellen Orientierung andererseits. Während die Praktizierung homosexuellen Sexes in Japan gesellschaftlich genauso toleriert wird wie die von heterosexuellem Sex, ist es für offen Homosexuelle schwierig, soziale Gleichstellung mit Heterosexuellen zu erreichen. Die meisten Homosexuellen halten sich an die japanische Maxime „Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß“ und leben ihr schwules Leben im Verborgenen aus. Zwar wird Homosexualität bei Ausländern (die sowieso Narrenfreiheit genießen), bei (Fernseh-)Künstlern und in Mangas allgemein akzeptiert und besitzt sogar teilweise Kultstatus; vom gewöhnlichen Japaner wird aber nichts anderes erwartet, als dass er selbstverständlich heterosexuell zu sein hat. Offene Homosexualität wird ignoriert und Rechte lassen sich daraus nicht ableiten. In Japan ist anonymer Sex mindestens ebenso leicht zu haben wie in westlichen Großstädten und wird ohne schlechtes Gewissen genossen. Gewaltsame Übergriffe auf Homosexuelle gibt es praktisch nicht. Hingegen gilt Homosexualität außerhalb besonderer Nischen weiterhin als Makel. Rechtlich sind Homosexuelle in vielerlei Hinsicht benachteiligt, Unterstützung von Gesellschaft und Familie gibt es nicht. Mit einer grundlegenden Verbesserung der Situation ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Vielen Japanern fällt es daher schwer, ihre eigene Homosexualität anzunehmen. Auch Partnerschaften haben es dadurch deutlich schwerer als im Westen. X-gender X-gender (japanisch x-jendā; von englisch gender „soziales Geschlecht“) ist eine japanische Bezeichnung für Geschlechtsidentitäten außerhalb der Zweiteilung „männlich“ und „weiblich“. X-gender meint nicht notwendigerweise ein eigenständiges drittes Geschlecht, sondern umfasst unterschiedliche nichtbinäre Identitäten, unabhängig von Geschlechtsmerkmalen der Personen. Prominente Beispiele für sich selbst als „X-gender“ definierende Personen sind die Mangaka Yūki Kamatani und Yuu Watase. Der Ausdruck X-gender setzt sich zusammen aus dem X, das in vielen Ländern in Dokumenten für eine Unbestimmtheit der Geschlechtlichkeit benutzt wird (etwa in Österreich). Und gender wird in Japan entsprechend der Bedeutung im Englischen verstanden. Die Zusammensetzung ist in Japan selbst entstanden und wird nur dort gebraucht. Demgegenüber finden die internationalen Bezeichnungen „transgender“, „genderqueer“ oder „nonbinary“ für solche Geschlechtsidentitäten in Japan kaum Verwendung. Als Ursprung des Ausdrucks wird die Region Kansai auf der japanischen Hauptinsel angenommen, wo es im Laufe der 1990er-Jahre in Publikationen queerer (homosexueller) Gruppen immer wieder auftauchte, wobei der genaue Ursprung unbekannt ist. Erstmals ausführlich betrachtet und definiert wird die Bedeutung in einer Ausgabe des Magazins Poco a poco, das im Jahr 2000 von G-Front Kansai herausgegeben wurde und mehrere Artikel über Personen enthielt, die in der Geschlechtskategorie X-gender einzuordnen wären. Die Bezeichnung selbst tauchte allerdings erst im Glossar auf. Durch eines der Gründungsmitglieder der Gruppe, das an mehreren Interviews und Dokumentationen teilnahm, wurde x-jendā (japanisch ekkusu jendā ausgesprochen) weiter etabliert. In der Folge fand die Bezeichnung zunehmende Verbreitung durch Verwendung in sozialen Medien sowie gesteigerte Wahrnehmung des Gender-Diskurses in der öffentlichen Meinung. X-gender gilt als Teil des Transgender-Spektrums und wird häufig als Geschlechtsidentitätsstörung angesehen (japanisch 性同一性障害 seidōitsuseishōgai). Obwohl die Bezeichnung erst ab der Jahrtausendwende aufkam, sind dritte Geschlechtsidentitäten in Japan (etwa okama oder onabe) sowie außerhalb seit längerer Zeit bekannt (wie die Hijra in Indien, die Kathoey in Thailand oder die amerikanischen Two-Spirit). Da mit X-gender verschiedenste Geschlechtsidentitäten zusammengefasst werden, gibt es keine klare Definition dieser Kategorie im Sinne eines konkreten Geschlechts; üblich sind drei Untergruppen: 両性 ryōsei: Personen mit Eigenschaften beider Geschlechter 中性 chūsei: Personen mit einer Geschlechtsidentität jenseits von Mann oder Frau („drittes Geschlecht“) 無性 musei: Personen, die keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale besitzen (Intersexualität) oder nicht auf eine von beiden Geschlechterrollen festgelegt werden wollen Der in all diesen Bezeichnungen verwendete Wortbestandteil 性 (-sei) bedeutet „Geschlecht“ und bezieht sich dabei sowohl auf biologische wie auf Identitätsmerkmale. Die Bedeutungen von „Transgender“ und „Geschlechtsidentitätsstörung“ bezogen sich ursprünglich auf den Wechsel zwischen den beiden Geschlechtern Mann–Frau: von einem gänzlich zum anderen (Transsexualität). Teil der Vorstellungen war auch, dass es nur diese Zweigeschlechtlichkeit gebe, verbunden mit einer Heteronormativität der jeweiligen sexuellen Orientierung (gegengeschlechtliche Liebe). Im Unterschied dazu bietet das japanische X-gender eine unbestimmte Möglichkeit der Geschlechterzuordnung außerhalb der beiden Kategorien, ohne deren Binärität oder Heteronormativität in Frage zu stellen. |